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»Schau!« Nick deutete auf das moderne Haus mit den vielen Fenstern hundert Meter unter ihnen. »Das ist er! Das ist Remlikov.«
Andie spähte durchs Fernglas und entdeckte den Mann – dünn, dunkel, nicht allzu groß, nicht allzu Furcht einflößend. Wut schnürte ihr die Brust zu.
Sie hatte nicht gewusst, wie sie sich beim Anblick des Mannes fühlen würde, der ihren Sohn getötet hatte. Und jetzt, da es passierte und sie nur hundert Meter von ihm entfernt war, wusste sie: Es war nicht das, was sie wollte. Ihr Magen zog sich zusammen.
»Ich sehe ihn.« Andies Finger umklammerten das
Fernglas noch fester. Nick hinter ihr drückte ihren Arm.
»Kommt er dir bekannt vor?«
»Nein.« Sie wünschte, er täte es. Sie wollte tiefen Hass für ihn
empfinden. Abscheu. Irgendetwas. Das war also der Mann, der ihre
Welt zerstört hatte? Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, den
habe ich noch nie gesehen.«
»Er wohnt dort mit seiner Frau und seinem Sohn.«
»Er hat einen Sohn?« Das hatte Andie nicht erwartet. Wusste seine
Familie Bescheid über die abscheulichen Dinge, die er getan hatte?
Wussten sie davon, während sie beim Essen zusammen saßen oder Ball
spielten oder sonst etwas taten? Wie konnte jemand, der ein Kind
hatte, solche grausamen Dinge tun?
»Er verlässt das Haus jeden Tag um diese Uhrzeit«, erzählte Nick,
der durch sein eigenes Fernglas spähte. »Um vier Uhr. Er bringt
seinen Sohn weg.«
»Nick.« Andie nahm das Fernglas herunter und blickte ihn mit
tränennassen Augen an. »Ich glaube nicht, dass ich das tun kann.
Ich müsste diesen Mann hassen. Ich müsste sehen, was er mir angetan
hat. Ich weiß, was wir von ihm brauchen. Es ist nur so, dass … du
Drecksau«, schimpfte sie in Richtung des Hauses, bevor sie den
Blick abwandte.
»Tu einfach, was du tun musst«, sagte sie wütend. »Du hattest
Recht. Du hast Recht.«
Plötzlich wurde das Garagentor wieder geöffnet. Nick blickte auf
die Uhr. »Es geht los.«
Der Mann, der ihren Sohn getötet hatte, trat durch die Tür, die vom
Haus in die Garage führte. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd,
eine braune Hose und eine Sonnenbrille. Kurz blickte er sich um,
dann stieg er in den Audi und startete ihn.
»Jeden Tag zur selben Zeit. Da ist der Junge.«
Andie drehte sich ein Stück und hob das Fernglas wieder an die
Augen. Der Junge konnte nicht älter als elf oder zwölf sein. Etwas
älter, als Jarrod gewesen war. Er ist unschuldig, sagte sie sich,
egal, was der Vater getan hatte. »Wohin fahren sie?«
»Ich weiß nicht. Ich möchte ihnen folgen. Ist das in Ordnung für
dich?«
Andie nickte. Dieser Wichser. Dieses Schwein. Wie konnte er den
liebenden Vater spielen, wenn er wusste, was er getan
hatte?
Der Junge ging auf den Wagen zu, der rückwärts aus der Garage
fuhr.
Andie holte den Jungen mit dem Fernglas näher heran. Er trug ein
Buch und etwas, das wie ein Laptop aussah. Der Umschlag des Buches
war zu erkennen. Sie wusste nicht, warum sie sich dafür
interessierte.
Schach.
Der Junge stieg ins Auto.
»Komm«, forderte Nick sie auf und warf sein Fernglas auf den
Rücksitz. »Fahren wir. Ich will nicht allzu weit hinter ihnen
zurückbleiben.«
Andie nickte und wollte schon das Fernglas weglegen, beobachtete
aber noch einen Moment länger den Wagen, der die Auffahrt
hinunterfuhr.
Als wäre sie in ein Becken mit eiskaltem Wasser gefallen, rief sie:
»O mein Gott, Nick!«
Bei dem Schock über das, was sie gerade gesehen hatte, wurde ihr
übel. Sie begann zu schwitzen, als die schrecklichen Bilder in
ihrer Erinnerung aufblitzten. »O nein!«
»Was ist los?« Nick stellte den Schalthebel wieder auf
Parken.
»Schau ins Haus!« Ihr Kiefer verkrampfte sich, und ihr Mund war so
trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Siehst du den
Mann?«
Nick nahm ihr das Fernglas ab.
Er sah einen Mann, der, die Hände in die Hüften gestemmt, in
Trainingshose und weißem Guinness-T-Shirt neben dem Fenster stand
und dem Wagen hinterherblickte.
»Das ist er!« Andie wurde kreidebleich im Gesicht. Sie sah in ihrer
Erinnerung sein langes, blondes Haar. »Das ist der Mann, der von
dem Transporter weggelaufen ist!«